© Foto: privat, O. M.

Oxana Matiychuk aus Czernowitz ist Germanistin und Literaturwissenschaftlerin, arbeitet in an der Universität ebendort und versucht seit dem Überfall Russlands auf die Ukraine den Spagat zwischen Lehre, Abholung und Verteilung der humanitären Hilfe und Korrespondenz (und am Rande noch Haushalt) zu schaffen. Und sie schrieb uns über Ihr Leben in diesen Kriegstagen:

Seit dem 24.Februar 2022 musste ich oft denken, dass die Realität nur ein (Alb)Traum ist, dass ich an einem Morgen aus einem kurzen unruhigen Schlaf erwache und, im Gegensatz zu Gregor Samsa, erleichtert feststelle, dass meine Welt wieder einigermaßen in Ordnung ist. Jedoch ist seit diesem Tag nichts mehr wie früher – für Millionen Menschen in der Ukraine und über ihre Grenzen hinaus, sowie für mich persönlich. Ich bekomme gleich am ersten Tag so viele Mails von Freunden und Bekannten aus dem Ausland, dass ich nach einigen Stunden des erstens Schocks immerhin einen rationalen Gedanken fassen kann und im Gespräch mit dem Direktor des Instituts für deutsche Kultur und Geschichte Südosteuropas Dr. Florian Kührer-Wielach nach der Möglichkeit frage, ein Spendenkonto einzurichten. Mir ist klar, dass wir in unserer Region im äußersten Südwesten des Landes, in der unmittelbaren Grenze zu Rumänien, bald viele Geflüchtete Menschen haben werden. Und dass die Zivilgesellschaft, wie es 2014 der Fall war, auch viele Bedürfnisse für die Front decken muss. Das Ausmaß der Katastrophe kann ich an diesem Tag noch nicht erahnen. So wird die Spendenaktion „Netzwerk Gedankendach“ ins Leben gerufen. Seitdem behalte ich aus meinem früheren akademischen Leben nur noch die Lehre bei, die nach zwei Wochen Unterbrechung am 14.März wieder online aufgenommen wurde. Ansonsten werden die dank meiner vieljährigen Erfahrung im Kulturmanagement erworbenen Fähigkeiten, Kenntnisse und Kontakte für eine andere Art Management eingesetzt: Für die Anschaffung, Abholung und Verteilung von Hilfsgütern. Vier Universitätswohnheime wurden in die Flüchtlingsunterkünfte umfunktioniert. Wir bilden ein universitäres Freiwilligenteam. Wir erfahren eine großartige Unterstützung durch die Partneruniversität Stefan cel Mare in Suceava, weil beinahe alle Hilfslieferungen über Rumänien kommen. Wir lernen viele wunderbare Menschen kennen, die uns helfen wollen. Wir laden die Hilfsgüter in den ersten Wochen an der Grenze um und fahren später mit der Sondergenehmigung für männliche Kollegen weiter nach Rumänien, den Hilfstransporten ein Stück entgegen.  Es sind alles Erfahrungen, die ich nicht missen möchte, es schmerzt nur, dass die Umstände so tragisch sind.

Ich erfahre, dass eine Notgemeinschaft wie zur Zeit in unserem Haus, wunderbar funktionieren kann. Wahrscheinlich habe ich einfach Glück – mit Mutter und Tochter, die am 25.März aus Mariupol kommen, und mit einem Kollegen aus Zhytomyr, der zuletzt in Kyiv lehrte und lebte. Der Raum wird enger, dafür das Wahrnehmungshorizont weiter und die geografischen Kenntnisse präziser. Die Haushaltsführung profitiert eindeutig. Ich weiß bloß nach wie vor nicht, wie man mit Menschen aus Mariupol über ihre Stadt, die es nicht mehr gibt, spricht.

Über den Krieg und dessen Hintergründe gibt es sehr viel zu lesen, Wissenschaftliches und Literarisches, Sachlich-Analytisches und Dilettantisches, Rationales und Emotionales. Die aus Czernowitz gebürtige Schriftstellerin Chrystja Venhrynjuk, die in den letzten Jahren abwechselnd in der Ukraine und Bulgarien lebt, schreibt täglich Posts in Facebook für „meine werten Bulgaren“ über den Kriegsverlauf in der Ukraine. Ich kenne Menschen, die ihre Gefühle plötzlich in poetischen Zeilen ausdrücken, obwohl sie früher keinen Bezug zur Literatur hatten. Diese Texte haben freilich eine therapeutische und keine ästhetische Bedeutung. Oder sie sind Zeitzeugenberichte. Es sind Versuche, das Unfassbare, das Erlebte und das Traumatische zu artikulieren, um sich ein Stück davon zu befreien. Große Werke über diesen Krieg wird es erst später geben.

Diese Zeilen spiegeln mein persönliches Empfinden, meine persönliche Geschichte. Ich weiß, dass es vielen in meinem Bekanntenkreis ähnlich wie mir geht. Ich weiß aber auch, dass es vielen in meinem Bekanntenkreis anders ergeht. Es gibt Menschen, die sich neben ihrer eigentlichen Arbeit engagieren, und solche, die ihren alltäglichen Pflichten nachgehen, ohne sich zusätzlichen Aufgaben zu widmen. Es gibt Menschen, die stündlich Nachrichten lesen, und solche, die sich bewusst ausblenden. Alles ist Kriegsrealität, alles ist eine Frage der inneren Einstellung.