Sehr geehrter Herr Gasser, sehr geehrter Herr Hans Schmid, sehr geehrter Klaus Amann, verehrte Anwesende,
die Ehre, als erste Autorin mit dem Christine Lavant Preis ausgezeichnet zu werden, berührt mich besonders. Christine Lavant, das neunte von neun Thonhauser-Kindern, ist genau so alt geworden, wie ich, das erste dreier Schmidt-Kinder, es gerade bin. Ich fühle mich längst nicht am Ende meines Lebens angekommen, bin unter anderen Bedingungen geboren worden und aufgewachsen als sie. Sehe ich mich als Mädchen, so erblicke ich ein nie schlankes Kind, das immer Zöpfe tragen wollte, aber stets mit sehr kurz geschnittenem Haar zufrieden sein musste. Das Kind trug frisch gewaschene, akkurat gebügelte Kleidung. Manchen Rock hatte die Mutter selbst geschneidert, manches Kleid war einem der heiß begehrten West-Pakete entnommen worden. Die liebte das Kind besonders, weil sie manchmal Strumpfhosen enthielten, die es vor einem allwinterlichen Dilemma retteten. Die ans Leibchen zu klammernden Wollstrümpfe kratzten nämlich fürchterlich und warfen dicke Falten am Bein, aber sie nicht zu tragen, war angesichts winterlicher Außentemperaturen unmöglich. Die Strumpfhosen hingegen, aus Baumwolle oder später Silastik, taten dem Bein wohl. Ich glaube nicht, dass Christine Thonhauser, deren Lebensbedingungen sicher nicht anders als prekär einzuschätzen sind, die Gelegenheit hatte, sich ihre Kleidung auszusuchen. Als Kind litt sie, unter anderem, an Skrofulose, einer Krankheit, der Armut, mangelnde Hygiene und schlechte Ernährung gewaltigen Vorschub leisten. Ich litt, und das reichte mir wirklich, als Sechsjährige einmal an einer schrecklichen Furunkulose, die die Urgroßmutter mit „schlechtem Blut“ begründete, was wiederum zu merkwürdigen seelischen Verwerfungen bei mir führte. Wer hat schon gern „schlechtes Blut“?
Es scheint zunächst merkwürdig, dass mich das Erinnern an Christine Lavant zu Umwegen über die Kindheit führt. Aber war ihr literarisches Debüt nicht die Erzählung „Das Kind“, in der sie ihre eigenen frühen Erfahrungen mit Krankheit, dem als fremd und rätselhaft erlebten Kosmos eines Krankenhauses thematisiert und aus der Perspektive eines Kindes die eigene Existenz inmitten von Aberglauben und katechetischem Hoch-Druck zu fassen versucht? Eines Kindes, das sein Außenseiterdasein im Spital doppelt vor Augen geführt bekommt, als bitterarmes und als todkrankes? Dass Christine Lavant die Perspektive dieses Kindes auch als Erwachsene noch einzunehmen vermag, löst Erstaunen aus. Ungebrochen, so scheint es, wird dem Leser dieses Prosastückes jene die ganze Existenz des Kindes ausmachende, beherrschende Rätselhaftigkeit nahegebracht, die er bald wie einen Albdruck spüren muss, hat er sich durch die spezielle Syntax und die Bedeutungshöfe österreichischer Sprachmuster hindurchgearbeitet. Und spürt dann selbst, dass die Türen auf dem langen Gang des Spitals „sowieso keine richtigen Türen“ sind. „Die tun bloß so. In Wirklichkeit sind sie ganz was anderes und gehören zu dem Gang, der wie die Ewigkeit ist.“ Auch wenn kurz zuvor aus vermeintlich auktorialer Erzählhaltung heraus gesagt wird: „So denkt das Kind, das schwer kurzsichtig ist und von numerierten Türen nichts weiß.“ Nicht viele dieser auktorialen Einsprengsel weist der Text auf, so, als habe Christine Lavant sich hin und wieder dazu durchringen müssen, sich ihrer Erzählerposition zu vergewissern. Und wie kleine Anstöße tun sie das Ihrige, dem Leser Distanz zum Erzählten aufzunötigen. Ihn nicht völlig versinken zu lassen in dieser kindlichen Un-Vernunft, der seine Rationalität nun so gar nicht verfallen will. Er möchte hin und wieder vielleicht auftauchen aus all der knorzigen Mystik, dem Wunderglauben und der Frömmelei. Aber gerade die winzigen auktorialen Momente bringen ihn dann doch dazu, beim Erzählten zu bleiben. Denn: Der Text weiß ja offensichtlich von sich, wie auch die Erzählerin von ihm weiß, dass er etwas erzählt. Ich denke, an diesen spärlichen, vermutlich nicht einmal vorsätzlich angebrachten Kunstgriffchen konnte Christine Lavant sich festhalten und dabei auch die empfindliche Waage zwischen Bewußtem und Unbewußtem fast vollständig in der Balance halten. Ich stelle mir ihren Zustand beim Schreiben als einen sehr besonderen vor, wie auch ich ihn hin und wieder erlebe: Knie ich tief in einem Roman, weiß ich oft so wenig, was ich tue, dass ich, bin ich wieder aufgetaucht, mich vergewissern muss, wovon in den letzten Stunden die Rede war.
Christine Lavant steckte in einem kleinen, zierlichen, von Malen verschiedenster Krankheiten gezeichneten Körper. Was von außen kam, musste Hürden nehmen. Auf einem Ohr ertaubt, halb erblindet. So nistete sie ganz in sich und war in Bezug auf die Welt von vornherein ein Verkapseltes. Hinzu kam katholische Zurichtung, die den Augen jeden Blitz hatte nehmen sollen. Ich habe sie freilich nie gesehen, aber selbst auf Fotos wird deutlich, dass der Katholizismus zumindest das nicht geschafft haben kann.
„1915 geboren, verbrachte sie ihr kurzes, von Krankheiten und einer unglücklichen Ehe überschattetes Leben – sie starb 1973 mit nur 58 Jahren – in Armut und Bitterkeit. So bezeugen es Gedichte und Briefe.“, schreibt Insa Wilke in der Zeit Online im März des vergangenen Jahres in einem Artikel, der Christine Lavant doch ziemlich auf die Schmerzensfrau reduziert und vorgibt, sich ihren Texten auf toxisch glühendem Untergrund, in der Zeit rückwärts schreitend, unter politisch korrekter Genderfrage zu nähern. Die Autorin schreckt nicht davor zurück, die von mir hochverehrte Monika Rinck mit einer Frage zu zitieren: „Was aber, wenn die Lavant sich aufmacht, gegen die Entsagung anzugehen, und das Gedicht am Ende doch wieder nur Sublimierung ist?“ Ja, das hat Monika Rinck tatsächlich geschrieben. Aber der ernste, gewissermaßen lineare Zusammenhang, in den ihn Insa Wilke hineinstellt, ist im Rinckschen Text nicht gegeben. Sie reißt ihn sozusagen heraus einem nicht linear erzählten, sondern verwirrenden und kopfanstrengenden. Dabei springt dieser Text vor, zurück, zur Seite ran, wie wir als Kinder, in langer Reihe, die Arme auf die Schultern des jeweiligen Vordermannes gelegt, laut riefen und den rechten Fuß dabei eben vor, zurück, zur Seite, ran bewegten. Für die kleine Zeit dieser Vor-zurück-zur Seite-ran-Bewegung kamen wir nicht vorwärts, verharrten auf der Stelle und freuten uns der Synchronizität unserer Beinbewegungen. Und auch Monika Rinck, deren Text man in der im S. Fischer Verlag herausgegebenen Neuen Rundschau, im Heft 1 des Jahres 2015, nachlesen kann, sieht sich im Text nicht allein, sondern in einem WIR, das, dessen Bewegungen nachahmend, zum Beispiel einen Mäusemob beobachtet. Dieses WIR besteht aus ihr selbst und aus einer Henry genannten Person, deren Erwähnung stets ein lautes, mundoffenes o vorangestellt wird. (Wer dabei an William Sidney Porter denkt, den amerikanischen Autor, der sich das Pseudonym O. Henry gab und sich um die vorvorige Jahrhundertwende herum ebenso den Außenseitern der Gesellschaft, den prekären Existenzen widmete wie Christine Lavant, kommt letzterer doppelt nahe.)
Am Rinckschen Texthimmel taucht ein Vogelschwarm auf. „Das war das Kollektiv“, schreibt Monika Rinck, und weiter: „Etwas schien zu funktionieren, und ich konnte meinen Blick nicht davon lösen. Das Beben erstarkte und ließ uns, indem es sich legte, in eine schattige Leere fallen. Dort verloren wir uns. In die Gegenwart kam ich am Faden der Sehnsucht im Singular zurück. Ich war kühl. Dicht streifte ich an meiner eigenen Leere entlang, o Henry, entlang.“ Monika Rinck geht es immer wieder um die dem Text vorangestellte Frage: „Werden wir noch heute / das Ich poetisch vernichten? / Es ist ja schon weich, / weich wie aufgetaute Beeren.“ In vielerlei Bewegungsabläufen, vor, zurück, zur Seite, ran, entwickelt sie eine Poetik des Vorbeistreifens an dem, was Tatsache genannt wird, und versucht, Mimesis und poetische Sprache quasi miteinander zu versöhnen, indem sie beide die so genannte Wahrheit verfehlen lässt, um sie am Ende doch für den Moment des Innehaltens – im vor, zurück, zur Seite, ran etwa – aufscheinen zu lassen. Sie ist nicht greifbar. Sie entzieht sich. Dennoch ist es Genuss, eine Ahnung davon zu haben, ihr nahe zu sein. Ein Gefühl, das ich nicht allzu oft im Leben hatte, das aber stark prägend, als Farbe, als Stimmung, als Tempo, manchem literarischen Text innewohnt, den ich las. Wie ein Text von einem lesenden Subjekt aufgenommen wird, hängt dabei ganz entscheidend auch von seiner eigenen inneren Verfasstheit ab, von der der Schreibende wiederum nur vage, wenn überhaupt, Vorstellungen haben kann. Monika Rinck reflektiert das gleichsam als Textproduzentin UND Leserin, indem sie viele Beispiele aufscheinen lässt und Autoren zitiert, die ihr in diesen Schleifen wichtig sind. Ich zitiere: „Rosa Braidotti tritt auf, gemeinsam mit dem nomadischen Subjekt, und versucht uns zu zeigen, was es heißt: desire als plenitude zu denken. Geht es nun in die Leere? In die gute? Bei Rilke in die Lehre? O zieh den Mondkork aus der Nacht! Aber wie? Mit einem Korkenzieher, der sich als verdrehte Jakobsleiter, eigentlich als Wendeltreppe in den Himmel dreht? `Im Grunde kämpft das Perlhuhn ohne Grund.´ Was aber, wenn die Lavant sich aufmacht, gegen die Entsagung anzugehen, und das Gedicht am Ende doch wieder nur Sublimierung ist? Wie, was heißt hier `nur´ Sublimierung, fragen die Mäuse aufgebracht. Gut, ich lasse es weg, `nur´ lass ich weg. Sehr gerne, sagen die Mäuse strafend. Ja, wobei Entsagung ja nicht gleichbedeutend ist mit Sublimierung, o Henry, und auch nicht mit den Dokumenten, die daraus hervorgehen.“
Aha, so wird also ein Schuh aus dem von Insa Wilke leider aus dem Zusammenhang gerissenen Satz „Was aber, wenn die Lavant sich aufmacht, gegen die Entsagung anzugehen, und das Gedicht am Ende doch wieder nur Sublimierung ist?“ Wilke schließt aus ihm: „Das Gedicht wird also zur Ersatzhandlung, entwertet wird damit sowohl das Gedicht, als auch der Akt des Widerstands, der die Grenzen des Gedichts ja nicht überschreitet.“ Halt, höre ich mich rufen, denn ohne sein ironisches Drehmoment ist der Rincksche Satz ja gar nicht zu fassen! „…was heißt hier `nur´ Sublimierung, fragen die Mäuse aufgebracht“! Sublimierung im einfachen Wortsinne ist ja nichts anderes als ein Aufheben, auf eine höhere Stufe heben, etwas Höherwertiges schaffen. Und selbst der Freudsche, psychoanalytische Begriff ging einst davon aus, dass die Libido, das Sexualverlangen der Menschen, durch die gesellschaftliche Absprache um die vorvorige Jahrhundertwende als etwas Niederes, Tabuisiertes galt, das es in sozial nützliche, wissenschaftlich oder künstlerisch höherwertige Leistungen um- oder abzulenken galt. Das ist aus seiner Zeit erklärlich. Es hätte ja ohne Sublimierung dieser und jener Energie nicht zum gesellschaftlichen Fortschritt kommen können. Ich bin ganz froh über das demokratische Grundgesetz der Bundesrepublik, das neben der grundsätzlichen Achtung jedes Menschenlebens sogar eine Menge Entsagung braucht, um bestehen zu können. Wir entsagen dem Gedanken, andere Völker zum Zwecke des Land- und Raumgewinns zu überfallen. Wir entsagen Mord-, Verletzungs- und Vergewaltigungsgelüsten, wir entsagen der Lust, mehr zu besitzen, als wir uns leisten können. Das ist ein Konsens, der in seinen Anfängen nichts anderes war als eine soziale Regelung riesiger Konfliktpotenziale. Verzicht ist bis heute Voraussetzung jeglicher diplomatischen Mission zur Beendigung von Kriegen. Eine schwere Bürde, die erst einmal aufgenommen sein will. Und dabei ist Entsagung, siehe Rinck, keineswegs in eins zu setzen mit Sublimierung!
Von heute aus gesehen, könnte man vielleicht sogar umgekehrt sagen: Wenn einem, am Schreibtisch, an der Staffelei oder vor dem Computer mit den Laborergebnissen, nichts mehr einfällt, als sich auf seinen Partner zu besinnen, vielleicht mit ihm ins Bett zu gehen – ist nicht auch das eine Sublimierung negativer Energie, die zu etwas Höherem führt als zu schlechter Literatur, einem verkorksten Bild oder einer dünnschaligen Studie? Soviel möchte ich der Gemeinschaft mit anderen Menschen, dem Anverwandeln eines anderen Körpers schon zugestehen…
Apropos Körper. Der von Christine Lavant wurde schon beschrieben. Meiner noch nicht, jedenfalls weiß ich nichts davon. Wenn Sie meinen Körper mit dem von Christine Lavant verglichen, fielen die großen Unterschiede sofort ins Auge. Dick – dünn, untersetzt – zart, größer – kleiner. Jedoch sind beide Körper als rauchende zu verstehen, beiden sind die Insignien verschiedenster Krankheiten und Operationen eingeschrieben. So, wie man der einen die Kinderlosigkeit vielleicht nicht ansieht, so wenig der anderen den relativen Kinderreichtum. Aber dächten wir uns eine Achse durchschnittlichen Körperbaus, so befänden sich sowohl Christine Lavant als auch ich auf einer davon recht weit entfernten Position, allerdings in unterschiedlichen Richtungen. Ihr von meinem Ort aus zuzuwinken, wäre vermutlich zwecklos, so groß wäre die Zahl der Menschen, die dazwischenstünden. Dennoch winke ich unverdrossen, denn der Körper ist ja nicht alles.
Das beseelte Etwas, als das der Mensch sich gibt, hadert zwar gern mit dem Kern (oder Hirn), ist aber doch ganz froh, ihn (oder es) zu besitzen. Schon als Kind faszinierte mich der Gedanke, eine Seele zu haben, etwas, das in mir wohnt wie in einem Gefängnis, das es erst mit dem Tode verlassen kann. Vielleicht habe ich deshalb Psychologie studiert und einige Jahre lang in diesem Beruf, vornehmlich als Kinderpsychologin, gearbeitet. Ich erinnere mich einer zum Glück nicht ganz kleinen Zahl von Kindern, die mich erstaunten. Die neunjährige Zwillingsschwester eines lernbehinderten Jungen zum Beispiel, beide umrahmt von älteren und jüngeren, durch die Bank lernbehinderten Geschwistern. Die Eltern wurden nur deshalb nicht als lernbehindert bezeichnet, weil sie dem Schulalter längst entwachsen waren. Die Patientenakte nannte sie einfach debil. Sie vermochten ihre Kinder nur schlecht und recht zu beschützen, hatten sich selbst in den vermeintlichen Schutz des Alkohols begeben. Noch ein, zwei Kinder mehr, dachte ich, und sie sind sie alle los. Die Jugendhilfe stand in Lauerstellung, hatte eine Ehrenamtlerin abgestellt, mit der Familie die Haushaltsplanung zu üben und Knöpfe annähen und Hosen flicken und kochen. Und dieses neunjährige Mädchen überragte mit ihrer Intelligenz nicht nur Eltern und Geschwister, sondern auch Klassenkameraden, so dass sie, wir lebten in der DDR, von ihrer Lehrerin für eine Klasse mit Erweitertem Russischunterricht an einer anderen Schule, einer Parkstation für Hochbegabte, vorgeschlagen wurde. Die Eltern wollten das nicht, scheuten den langen Weg für das Kind, überhaupt war es ihnen ganz unverständlich, was eine „von ihnen“ dort solle. Zu mir kam das Mädchen, weil die Lehrerin eine Verbündete brauchte. Nicht nur in der Auseinandersetzung mit den Eltern, sondern auch mit Kollegen, die abwinkten, als sie davon erfuhren. Wozu denn der ganze Aufwand. Diese Lehrerin bot an, das Kind im kommenden Schuljahr mit dem eigenen Auto täglich zur Schule und wieder zurück zu bringen, bis sie in der Lage sein würde, den Weg alleine zu bewältigen. Wie es uns gelang, die Eltern von der Richtigkeit dieses Vorgehens zu überzeugen, weiß ich nicht mehr, wahrscheinlich versuchten wir, sie zu großem Stolz zu überreden. Ein halbes Jahr lang wurde die Kleine schließlich von ihrer vormaligen Lehrerin zur Schule gefahren, dann wollte sie die Bahn nehmen. An dieser Stelle komme ich auf den Begriff der Resilienz: Dieses Mädchen zeigte eine so erstaunliche Resilienz gegenüber den Bedingungen des eigenen Herkunftsmilieus, dass ich es nicht vergessen kann. Resilienz ist, kurz gesagt, das Vermögen eines Menschen, sich widrigsten Umständen zum Trotz psychisch weitestgehend normal und gesund zu entwickeln. Welch ein hohes Maß an Resilienz zeigte offenbar auch Christine Lavant, von Armut und lebensbedrohlicher Krankheit gezeichnet, die sich dennoch aufmachte, eine der großen Lyrikerinnen ihres Landes zu werden! Die, ganz auf Ihr Innerstes gestellt, diesem Innersten das Äußerste abrang!
Der psychologische Begriff der Resilienz steht übrigens dem biologischen der Autopoiese recht nahe. Autopoiese ist ein systemtheoretischer Versuch, lebende Systeme als den Prozess zu definieren, der sie ausmacht. Nicht einzelne Eigenschaften wie Reizbarkeit oder Beweglichkeit werden zur Beschreibung herangezogen, sondern die Form der Selbstorganisation eines lebenden Systems. Das Ergebnis des funktionalen Zusammenspiels der einzelnen Bestandteile ist eben genau die Organisation, die jene Bestandteile hervorbringt. Es gibt keinen Unterschied zwischen Erzeuger und Erzeugnis. Das altgriechische Auto-Poiese meint Selbst-Erschaffung. Der Begriff der Poiese hat dieselbe Wurzel wie der der Poesie, und Sie brauchen nur das i zwei Stellen weiter hinter das s zu schieben und haben die Poesie um ihrer selbst willen, die Christine Lavant autopoietisch hervorbrachte als Garant der Aufrechterhaltung ihres Lebenssystems…
Das wäre ein schöner Schluss meiner Rede, aber: Ich weiß, dass ich Ihnen heute noch keine Wahrheit verkündete. Mehrfach habe ich versucht, sie zu streifen, mich ihr zu nähern, mich wieder zu entfernen und aus anderem Blickwinkel erneut zuzustoßen. Dabei gibt es eine Wahrheit, aber sie ist unpoetisch und hat mit der unpoetisch kommerziellen Papiertüte zu tun, mit der ich auf die Bühne getreten bin. Diese Wahrheit ist: Ich stricke. Wie auch Christine Lavant gestrickt hat. Stellvertretend für alle, die dafür gesorgt haben, dass ich heute diesen schönen Preis bekomme, habe ich für Klaus Amann ein Paar Socken in der gängigsten aller Herrengrößen verfertigt und möchte sie ihm übergeben. Zuvor jedoch danke ich Ihnen allen, dass Sie mir zugehört haben.
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