Von der Röte und den Knoten des Fadens, der Zunge
Laudatio für Kathrin Schmidt in drei Verbeugungen
Von Daniela Strigl
- „auf der sprachenbrache des erinnerns“ – die Gedächtnis-Künstlerin
Da gibt es einen Prosatext, in dem Kathrin Schmidt ein Gedicht von Christine Lavant – ja, was eigentlich: umwickelt? Oder entwickelt? Verwandelt? Sich einverleibt? Lavants Gedicht beginnt mit den Zeilen „Oft verliere ich mitten am Tage / den Faden meiner Zeit.“ Der Text enthält alle Wörter des Gedichts in der richtigen Reihenfolge, sie sind aber, erkennbar in Großbuchstaben gesetzt, eingeebnet, verwoben in ein Nachdenken über Erinnerung. Unebenes Gedächtnis lautet der Titel, und auch er bezieht sich auf das vorbildliche Gedicht. Das Ich, wir sagen kühn: die Autorin erinnert sich an ihre Kindheit im ostdeutschen Gotha, „an einem eher eng zu nennenden ort“, wie es anderswo heißt, erinnert sich an den Vater, der zehn Jahre im Straflager Bautzen einsaß, an die Mutter, die als Flüchtlingskind aus Ostpreußen kam. Die Erinnerung macht sich breit wie der Geist aus der Flasche, die Bilder, „pastell oder scharfkonturig wie Schattenrisse, schälen nicht Wahrheit heraus, sondern verpacken die Tatsachen in Fließtextmüll und Kontextmull“.
Als Dichterin, die sie zuerst und zuinnerst ist, erinnert sich Kathrin Schmidt in Bildern, denen sie nicht traut, weil sie den Kern der Sache verhüllen. In ihren Gedichten blickt sie nicht nur auf Schlüsselmomente ihres Lebens, auf kindliche „gelübde und riten der tüchtigkeit“, sondern auch auf die kollektiven Deformationen in der Realität des Sozialismus. Ehe sie mit vierzig ihren ersten Roman veröffentlicht, sind bereits drei virtuose Gedichtbände erschienen, metrisch durchkalkuliert, sprachverspielt, stabreimsüchtig, bildverliebt, jedoch mit Reimen geizend, stets ganz nah und mit Lust und Geschmack an den Wörtern: „ich sehe den wörtern zu / die als gesüßte fische / zwischen den zähnen zappeln.“
Der vierte Roman schließlich wird zur Apotheose menschlicher Gedächtnisleistung, einer Leistung, die sich zwar trainieren, aber nicht erzwingen läßt: Du stirbst nicht ist definitiv nichts für Hypochonder. Es erzählt die Geschichte einer 44-jährigen Frau, die eines Tages vom Geräusch klappernden Bestecks erwacht und sich in der Küche ihrer Eltern glaubt. In Wirklichkeit ist sie im Spital. Verkabelt, bewegungsunfähig, der Sprache nicht mächtig – was ihr in den Sinn kommt, ist Englisch. Sie weiß nicht, wer genau sie ist und was mit ihr passiert ist. Sie hat Angst – Angst, ferngesteuert zu sein. Immerhin freut sie sich über Besuch: „Die kennt sie. Es sind ihre Söhne. Deren Namen wollen ihr zwar nicht einfallen, aber das macht jetzt nichts.“ Helene Wesendahl (ja, „Helene“ kommt ihr bekannt vor) erfährt, daß sie eine Hirnblutung als Folge eines geplatzten Aneurysmas hatte, zweimal operiert wurde. Ihr erstes Wort ist „Matthes“, so heißt ihr Mann, sie sagt „Mads“: „Er versteht es! Ihr Ehrgeiz ist entfacht. Bist Eulen?, fragt sie ihn. Er guckt. Überlegt er? Ruft plötzlich: Ja, bin Eulen! Ja, ja! Sie könnte nicht Jandl sagen, denkt sie. Nicht Mayröcker.“
Daß die Patientin imstande ist, von ihrer Kenntnis der österreichischen Gegenwartsliteratur zu profitieren, verweist auf ihren Beruf, der ihr entfallen ist: Sie ist Schriftstellerin, die Rückeroberung der Sprache ist also ein in jeder Hinsicht existentielles Unterfangen. Mithilfe ihres Laptops, ihrer Mails, ihrer Texte, die sie liest, als wären sie von einer Fremden geschrieben, unternimmt Helene immer ausgedehntere Forschungsreisen in die eigene Vergangenheit. Nur langsam bildet sich die Aphasie zurück, immer wieder stürzt das „Wortkartenhaus“ zusammen. Während sie bereits Komplexes schreiben kann, fällt das Sprechen noch schwer. Mit den Wörtern stellen sich Erinnerungssplitter ein, mit ihnen neue Wörter. Gewiß, Kathrin Schmidt ist diplomierte Psychologin, aber die Leiden der Helene Wesendahl hat sie am eigenen Leib erlebt. In Du stirbst nicht, für das sie 2009 den Deutschen Buchpreis erhielt, setzt die Gedächtnis-Künstlerin Kathrin Schmidt dem Leser das Puzzle des wiedergefundenen Lebens vor, Stein für Stein, ein Entwicklungsroman der anderen Art, unspektakulär und gerade deshalb ergreifend. In Christine Lavants Gedicht ist ein „alter blutfremder Traum“ daran schuld, daß das Ich den verlorenen Faden seiner Zeit, seiner Lebenszeit, rückwärts gehend immer wieder „knüpfen und knüpfen“ muß. Nicht nur das Gehen muß die Patientin in Du stirbst nicht neu lernen, auch das Fühlen. Auch wie man das macht, hat sie vergessen. Der große Leonard Cohen hat das so formuliert: „I did my best, but it wasn’t much. / I couldn’t feel, so I tried to touch.“
2. „Allgemeinmenschliche Werte“ – die Humanistin
In ihrem jüngsten Roman Kapoks Schwestern taucht Kathrin Schmidt wie schon in ihrem Debut Die Gunnar-Lennefsen-Expedition tief in die deutsche Geschichte ein, durch die DDR hindurch rückwärts in den Zweiten und den Ersten Weltkrieg. Und so wie die Gunnar-Lennefsen-Expedition gar keine richtige Expedition ist, sondern eine in den Norden ausschreitende Phantasiereise, die Erfindung einer Genealogie, eines üppig wuchernden Stammbaums für ein uneheliches Kind, so erweist sich Kathrin Schmidt auch in der weitverzweigten Familiengeschichte der Kapoks und Schaechter als eine begnadete Mythologin. Für die Erzählerin gilt, was in einem ihrer Gedichte steht, in grenzblick, wie zur probe: „nirgends ein schild mit festgelegter bedeutung: ende, ende, / sie verlassen den realistischen sektor“. Es ist ein schwankender, ein unzuverlässiger Begriff, den Kathrin Schmidt sich vom Realismus macht. Und gerade dieses Schwanken wird zur zuverlässigen Größe ihres Erzählens. In dem, was sie ihren Figuren zumutet, andichtet, aufbürdet, wird zugleich erkennbar, was sie vom Menschen erwartet, was sie ihm zutraut, also auch sich selbst, der nichts Menschliches fremd ist.
„wer anderen ein ei ins nest färbt, / muss nicht kuckuck schrein“, heißt es im Gedicht über ihre Herkunft und, daß dann sich lösten „zwei knoten / in tief gelegenen gefäßen“ und das Blut einige Organe zur Blüte brachte, wie zum Beispiel die Milz, die ja Freiheit und Verwandlung symbolisiert, aber auch den Sechsten Sinn. Was auch Christine Lavant gewußt haben muß: „In den Ohren Glockengeklöppel / auf der Zunge Knotenbotschaft / Feindsal zwischen Herz und Nieren / in der Milz ein Kuckucksei.“
In Kapoks Schwestern interessiert sich das mitgefütterte Kuckuckskind Kathrin Schmidt für ein Tabu der DDR-Geschichte: das Schicksal der Juden, im Osten Nazi-Deutschlands und später im Sowjetreich und unter den Arbeitern und Bauern. Und sie stellt bei anderer Gelegenheit gewisse historische Konstanten fest: „das deutsche reimt sich immer auf transport“. Sie untersucht aber auch, wie das geht, daß einer in der Diktatur seine Freunde ausspioniert und dabei lange glauben kann, er tue ihnen beinah so etwas wie einen Gefallen. Derselbe Held, der keiner war, Universitätsdozent, Philosoph im Geiste des Marxismus-Leninismus, bekommt dank Gorbatschows Glasnost-Politik 1988 den sensationellen Auftrag, die UNO-Menschenrechtsdeklaration zu würdigen, das, was immer nur als westlich-kapitalistische Pseudowahrheit gegolten hat, in den Rang „allgemeinmenschlicher Werte“ zu erheben. Daß zu diesen auch die Freiheit gehört, läßt sich auf Dauer nicht verheimlichen. Die Sozialwissenschaftlerin Kathrin Schmidt ist keine Konvertitin, weil die Skepsis sie durch ihr Erwachsenenleben begleitet hat, offenkundig glaubt sie mit ihrem Romanhelden an den „gültigen Kern“ des Marxismus. Das Humanum sucht sie aber bis heute nicht nur in den sogenannten kleinen Leuten, sondern gerade in den „Deklassierten“, mit denen laut Marx kein Staat zu machen ist, in den Randexistenzen, den Zukurz- und Unter-die-Räder-Gekommenen, deren gloriose Dürftigkeit sie empathisch wahrnimmt und gleichsam zum Leuchten bringt, ganz nach Lavant’scher Art.
Die Würde des Menschen ist für Kathrin Schmidt gerade die Würde des Invaliden, des Versehrten, des Kranken, dem man sie streitig macht. Und so kämpft das Ich in Du stirbst nicht zwischen Unvernunft und Selbstbehauptung um seine Souveränität und praktiziert Witz als Notwehr gegen die therapeutische Übermacht. „Scherz oder Schmerz? Immer beides, doppelt gemoppelt, geschlurft und gehoppelt“, lautet die Devise in Unebenes Gedächtnis. Es ist ein Aufstand und ein Ausbruch: ich häftlingin du heißt das erste, dem Kollaps gewidmete Gedicht des Bandes Blinde Bienen. Und der wahre Feind steht ohnehin jenseits, „sensenfräulein. oder / wer immer.“
Daß zum Humanismus der Feminismus gehört, menschennaturgemäß, darüber besteht für diese Malerin freundlichen Amazonentums kein Zweifel. Die Frauen in ihrer Prosa sind die wahren Oberhäupter der Familien, lustig und unternehmungslustig spielen sie die Männer glatt an die Wand. „eine frau sein, zwischengerollt / routine und fantasie“, heißt auch eine Frau sein, deren Ehrgeiz es niemals war, als ein „gefallender engel“ zu punkten. Immer dort, wo Kathrin Schmidts Mythos produktiver, überquellender Weiblichkeit, wo ihre Gebärmutterfreudigkeit bedeutungsschwanger zu werden droht, fährt sie ihr mit selbstironischer Verve in die Parade. Das lyrische Ich tritt nicht minder selbstsicher auf als die Erzählinstanz, selbstsicher und durchaus wehrhaft. Wie im Titelgedicht des Bandes go-in der belladonnen, das nicht nur die schönen Frauen einfängt, die in die Berliner Nacht ziehen wie in einen Krieg, sondern auch die tödliche Tollkirsche, atropa belladonna. Am Ende läßt das Ich sich „kommen aus all meinen schießscharten“.
3. „lapsus liebe“ – die Kartographin der Körper
Mit dem martialischen Bild sind wir schon mitten auf der Schießstatt Amors, der in Kathrin Schmidts sehr irdischem Götterhimmel kein ätherisches, sondern ein höchst leibhaftiges Wesen ist. Wie der Körper der Kranken gebieterisch sein Recht verlangt, wie er sich aufdrängt als vielfache funktionelle Störung, zerfallen in verstörende, abstoßende Einzelteile, so geschieht es in der Liebe. Kathrin Schmidt versteht sich auf vielerlei, jedoch nicht auf die Weichzeichnung harter Schnitte, sie nennt die Dinge beim Namen, sie vermißt den Körper akribisch, bleibt nah dran bis zur Unerbittlichkeit, Unappetitlichkeit, nimmt Sinnlichkeit ernst, läßt Säfte fließen, Dünste riechen, Schleimhäute schwellen. „lapsus liebe“, Lapsus: das ist der Ausrutscher, das Fallen, Stürzen und Sich-Verlieren. Die weibsmauser, so der Titel eines Gedichts, geht in der Verwandlung aufs Ganze: „wer greift in die rippenbox? holt uns das üble herz aus der tiefe?/ schlägt uns ein kreuz aus aorten darüber? die schwestern / ramba und zamba? so nah beieinanda?“ Lust und Liebe zu unterscheiden, das erscheint manchmal wichtig, dann wieder müßig: „steht auf dem spielplan liebe oder eine untergattung derselben, flüssiger honig“?
Wie Kathrin Schmidt etwa in Kapoks Schwestern die Anbahnung einer Liebesgeschichte zwischen den Schwestern und zwei Männern ebenfalls fortgeschrittenen Alters beschreibt, wahrlich ungeschminkt, mit allem Aufruhr und aller Macht und Ohnmacht der Sinne, das kann so nur sie. Rhetorisch gemeint sind die Fragen des Gedichts: „soll ich wildern? soll ich jung werden, / während du deinen blick auf mich wirfst?“ Zum Wildern paßt vielleicht der Gedichttitel als ich einmal einen österreichischen hund liebte, wobei man annehmen darf, daß hier nicht von reiner Tierliebe die Rede ist. Überhaupt kommt, rot-weiß-rot markiert, ein Herr Herbst vor, der wohl Schirennläufer ist, und anderswo der Glykolskandal und sogar die Wiener Brötchenmanufaktur Trzesniewski, weil die Liebe ihren Weg durch den Magen nimmt.
In eroticis gebärdet diese Erzählerin sich als Entwicklungs-, als Entfesselungskünstlerin in einem buchstäblichen Sinn. In ihrer Erzählung Am roten Faden wirft die Protagonistin eine Strickmaschine an, die sie eigentlich entsorgen wollte – Christine Lavant hat das Stricken bekanntlich professionell betrieben – und strickt ihrem Mann einen roten Strampelanzug, nur um diesen an ihm stockenden Atems wieder auftrennen, sich im Gegenzug von ihm einwickeln und auswickeln lassen zu können.
Die Sprache der Körper besiegelt lapidar den Waffenstillstand der Wörter und die Sehnsucht nach einer Zeit, da „nichts weiter / uns drückte als das buchstabiergewicht zweier eben geenterter zungen“. Stets aufs neue führt diese Dichterin uns an die Schmerzgrenze und darüber hinaus: „zugewandt verschmerzen einander lieb und leib“.
Unternimmt sie so etwas wie eine Ehrenrettung des Körpers? Gibt es das überhaupt, Ehre im Leib? Diese Poesie, diese Prosa spricht jedenfalls unverdrossen auch vom Versuch, das „Äquilibrium“ herzustellen, das Gleichgewicht zwischen den Liebenden, das Gleichgewicht zwischen Begehren und Hingabe, das manchmal eingeht unter das Dach selbstloser Fürsorge, in Form von mancherlei Taten und Gaben – Flanellpyjamas zum Beispiel: „Womöglich war Liebe warm, weich und kariert?“
Flanell scheint aber auf die Dauer kein Mittel gegen das, was heillose Verwirrung stiftet zwischen den Geschlechtern und unter den Geschlechtern. In Du stirbst nicht dämmert es Helene, daß da etwas war mit ihrem sie treu umsorgenden Ehemann, daß sie in den Wochen vor dem Hirnschlag ausziehen wollte von Zuhause, wegen einer Liebesgeschichte, ihrer Liebesgeschichte, einer Frau, die Viola hieß und einst ein Mann war. Von der Unmöglichkeit einer Transgender-Existenz in der DDR ist bei Kathrin Schmidt mit derselben wissenden Beiläufigkeit die Rede wie von der Liebe an sich, die nicht und schon gar nicht je „an sich“ zu fassen ist. Wie spricht Leonard Cohen? „Love is not a victory march / It’s a cold and it’s a broken Hallelujah“. Und daß ein „Liebster“ nicht zu haben ist ohne Schmerz, diese Erkenntnis steckt auch in Christine Lavants Anrede: „Verschüttet von schwarzen und roten Gebirgen / ist nun die gläserne Hälfte der Welt, / darin alle Bilder waren / von dir und den Menschen. / Das Glas ist nicht mehr zu heilen.“
Muß ich noch sagen, daß niemand besser geeignet wäre, den ersten Christine Lavant Preis entgegenzunehmen, als Kathrin Schmidt? Muß ich nicht. Meinen herzlichen Glückwunsch!
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