Wie und wann Christine Lavant auch in Georgien begeisterte ÜbersetzerInnen und Leserinnen fand, erfuhr unser Vorstandsmitglied Annemarie Türk im Gespräch mit der Übersetzerin Tamar Kotrikadze und dem Übersetzer Vassil Guleuri:

AT: Wie und wo sind Sie mit den Gedichten und Prosatexten Christine Lavants in Berührung gekommen? Wer hatte die Idee, gab den Impuls sich mit den Gedichten und Texten Christine Lavants auseinanderzusetzen?

Tamar Kotrikadze: Es war Schicksal, als ich 2000 ein österreichisches Stipendium bekam und ein Semester in Klagenfurt verbrachte. Ich besuchte damals Veranstaltungen im Literaturmuseum und Robert-Musil-Institut, wo ich zum ersten Mal von Christine Lavant hörte. Es war ihr Portrait, das mich zu allererst faszinierte und ich dachte sofort: das muss eine außerordentliche Frau sein! Erste Eindrücke bekam ich von Professor Arno Rußegger, der auf eine sehr emotionale Weise über Christine Lavant erzählte. Meine Lavantlektüre begann ich mit der Erzählung „Das Kind“, die eben damals in der neuen Ausgabe erschien und „Die Schöne im Mohnkleid“ – von den ersten Seiten dieser Erzählung an wusste ich, dass ich sie unbedingt ins Georgische übersetzen würde. In den nächsten Monaten hab ich dies auch getan, der Text erschien in einer literarischen Zeitschrift und erweckte sofort ein lebhaftes Interesse für die österreichische Autorin, die man bei uns vorher überhaupt nicht gekannt hatte. Auch als Literaturwissenschaftlerin begann ich mich mit ihrem Werk auseinanderzusetzen und widmete diesem ein Kapitel meiner Doktorarbeit zum Thema „Engel in moderner Literatur“. Ich kann also mit großer Freude sagen, dass ich die Ehre hatte, Christine Lavant für Georgien zu „entdecken“.

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© Tamar Kotrikadze

 

AT: Die ersten Lavant-Übersetzungen erschienen in Georgien schon 2001 – wie kam es dazu?

Tamar Kotrikadze: Das erste georgische Lavantbuch erschien dank Arno Rußegger, mit der finanziellen  Unterstützung der Universität Klagenfurt und des Robert-Musil-Literaturinstituts. Es enthält zwei von mir übersetzte Prosatexte – „Die Schöne im Mohnkleid“ und „Nell“, und 18 Gedichte aus verschiedenen Gedichtbänden. Da ich selbst keine Lyrik übersetze, suchte ich unter Kollegen diejenigen, die das tun würden. Diese 18 Gedichte haben 3 Menschen übersetzt, es ging aber schwer, denn wir alle verstanden, dass Christine Lavants Gedichte inhaltlich und formal sehr kompliziert sind. Deshalb waren es nur wenige Gedichte, die wir für dieses Buch übersetzen konnten… Das Buch, das auch mein Vorwort und einen Kommentar enthielt, erschien 2001 und ist mit einem Förderungspreis des österreichischen Kulturministeriums ausgezeichnet worden.

 

AT: Es blieb nicht bei dieser ersten Beschäftigung mit Lavant – weitere Übersetzungen folgten. Ist dies nur dem Interesse der Übersetzerin geschuldet oder gibt es ein breiteres Interesse an den Gedichten und Prosatexten von Christine Lavant in Georgien ?

Tamar Kotrikadze: Das Buch, wie auch zerstreute Publikationen von und über Christine Lavant, die ich ab und zu veröffentlichte, wurden von den Lesern mit Interesse aufgenommen. Große Verdienste  in der weiteren Popularisierung der österreichischen Autorin hat allerdings der Schriftsteller und Germanist Dato Barbakadse mit seinem Buchprojekt „Österreichische Lyrik des 20. Jahrhunderts“, dessen 13. Band Christine Lavant (zusammen mit Christine Busta) gewidmet ist. Wichtig war, dass er einen idealen Übersetzer für Lavants Lyrik fand und damit eine neue Epoche in der georgischen „Lavantologie“ begann. Vassil Guleuri ist ein hervorragender Literat, der russisch- und englischsprachige Lyrik übersetzt. Er kann kein Deutsch, spürte aber sofort die Tiefe und die Tragik der Lavant-Gedichte. Uns gelang es wunderbar, in einem Tandem zu arbeiten: ich machte die Interlinear-Übersetzung der Gedichte, er die literarischen. Wir waren beide von der Person Christine Lavants und von ihren Werken begeistert. Wir bereiteten zusammen eine große Auswahl der Übersetzungen für das zweisprachige Buch vor, das Dato Barbakadse 2008 veröffentlichte.

Vassil Guleuri: Von Christine Lavant hatte ich bereits gehört, bevor Dato Barbakadse mich bat, ihre Gedichte für seine Ausgabe zu übersetzen. Eine Freundin gab mir „Die Schöne im Mohnkleid“ zu lesen. Das Werk hat auch mich tief beeindruckt, aber erst die wortwörtlichen Übersetzungen von Lavants Gedichten haben mich in Bann gezogen. Vorher hatte ich nie mit einer Linearübersetzung gearbeitet, diesmal aber bekam ich große Lust, die Gedichte Christine Lavants zu übersetzen. Zusammen mit Tamar Kotrikadze habe ich mehr als 100 Gedichte übersetzt, der Arbeitsprozess war sehr dynamisch und interessant. Nach der Herausgabe des Buches, haben wir noch weitere Lavant-Gedichte übersetzt und in verschiedenen Zeitschriften veröffentlicht. Soweit ich die Reaktion der Leser kenne, kann ich behaupten, dass jeder, der diese Gedichte liest, von der wunderbaren Welt Lavants, von ihrem Schmerz, der scheinbar privat ist, aber die Schmerzen der ganzen Welt in sich einschließt, ergriffen wird.

 

AT: Wie steht es um die Rezeption dieser österreichischen Autorin in Georgien?

Vassil Guleuri: Ich würde nicht sagen, dass Christine Lavant in Georgien sehr viele Leser hat. Aber diejenigen, die sie lesen, öffnen sich ganz und gar diesem literarischen Kosmos. Ich denke, sie ist auch keine Dichterin für die breite Masse. Mit ihren Schmerzen, ihrer traumhaften Welt und ihren Protagonisten, mit den Symbolen, die so manchen Inhalt verschlüsseln, spricht sie zu jenen Menschen, die imstande sind, diese Schmerzen zu begreifen und zu fühlen.

Tamar Kotrikadze: Ich freue mich über die Maßen, wenn ich sehe, dass nicht nur viele Menschen unsere Lavant-Übersetzungen lesen, sondern es, außer uns beiden, Menschen gibt, die auch selber versuchen, Lavants Gedichte ins Georgische zu übersetzen und die über sie schreiben. Ich freue mich dabei so sehr, als ob es um meine eigenen Gedichte ginge. Das zeigt, dass wir auch andere dafür begeistern konnten und ein Feuer entzündet haben.

 

AT: Abgesehen von Rezensionen und vereinzelten wissenschaftlichen Abhandlungen – wie reagieren die georgischen LeserInnen?

Vassil Guleuri: Ich erinnere mich daran, wie eine Bekannte, die alles von Christine Lavant gelesen hatte und neue Übersetzungen gespannt erwartete, mir einmal gestand: „Die Lavant jagt mir Angst ein“. Ein ungefähr ähnliches Verhältnis haben auch andere geäußert. Es ist aber nicht eine solche Angst, die einen zwingt, zu fliehen und sich zu verstecken, im Gegenteil: Diese Angst wirkt anziehend und verlockend, wird Teil von dir, wird zum Ausdruck deiner eigenen Gedanken, Schmerzen und Ängsten. Und dies ist eben, was dich erschreckt: Wie vermag es diese einsame, halbverrückte, depressive Frau, dich so völlig zu ergreifen? Sie lässt dich auch dann nicht in Ruhe, wenn du mit dem Lesen schon fertig bist. Ich kann behaupten, dass der georgische Leser Christine Lavants kein gewöhnlicher Bibliophiler und Freund der Lyrik ist. Der georgische Leser Christine Lavants empfindet auch selber Einsamkeit, Wahnsinn, Schmerz, von denen Lavants Gedichte erfüllt sind.

Tamar Kotrikadze: Einige haben mir gesagt: „Es ist keine Frau, es ist ein richtiger Brand der Gefühle!“ Viele meinen auch: „Ihr Gesicht auf dem Foto erinnert mich an meine Großmutter (oder: meine Tante)“, ich glaube, bei vielen entsteht ein Gefühl der Innigkeit, eine besondere emotionale Nähe mit dieser Dichterin.  

 

AT: Was genau fasziniert georgische Literaturliebhaber an ihren Gedichten und Erzählungen?           

Vassil Guleuri: Christine Lavants Lyrik ist eine Lyrik von Traumvisionen. Es ist aber nicht nur Privates, es scheint, als ob die Dichterin in ihrem Schmerz die schwere Last der ganzen Menschheit trage. Ich denke, dass die georgischen Leser darin ihre eigenen kleineren Schmerzen sehen. Lavants Werk hilft einigermaßen, der transzendenten Welt näher zu kommen. Die Dichterin sucht nach Glauben, Liebe, Innigkeit und bekämpft ihre Ängste. Wahrscheinlich, ist das einer der Gründe, warum ihre Gedichte den georgischen Lesern so nahe gehen und interessant geworden sind.

Tamar Kotrikadze: Vor allem sind von ihrem Werk sehr feinfühlende Menschen fasziniert, meist Frauen. Ihre Tragik, ihre Gefühle spielen natürlich eine große Rolle. Ich glaube, Christine Lavant interessiert unsere LeserInnen nicht nur wegen ihrer Texte, sondern, und vor allem, wegen ihrer außerordentlichen Biografie. Sie fasziniert als Person, als Charakter, ihre Fotos, ihre Aussagen, die man in ihren Briefen und in Erinnerungen der Zeitgenossen lesen kann – dies alles wirkt sehr stark auf die Leser.

 

AT: Gibt es nächste Pläne?

Vassil Guleuri: Ich würde auch in der Zukunft zusammen mit Tamar Kotrikadze gerne daran arbeiten, einen weiteren Teil von Christine Lavants Werk ins Georgische zu übersetzen, falls wir eine Möglichkeit haben werden. Wir hatten ein Projekt, in die Heimat Lavants zu fahren und dort miteinander an neuen Übersetzungen und an einem Buch über Christine Lavant zu arbeiten. Bis jetzt blieb dies noch immer eine Idee. 

Tamar Kotrikadze: Wir werden Christine Lavant unbedingt weiter übersetzen. Und das Buch über sie, das ich begonnen habe, muss auch unbedingt fertiggeschrieben werden. Zurzeit beschäftige ich mich mit anderen Übersetzungsprojekten, aber Christine Lavant ist eine Autorin, von der man sich nicht trennen darf, und auch nicht trennen kann.

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© Tamar Kotrikadze

 

Tamar Kotrikadze

hat an der Staatlichen Universität Tiflis Germanistik studiert und diese Ausbildung als DAAD-Stipendiatin an der Univeristät Bamberg fortgesetzt. Bereits in ihrer Dissertation hat sie sich u.a. mit Christine Lavant beschäftigt und 2005 erstmals an einem Internationalen Lavant Symposium in Wolfsberg teilgenommen. Seit 2007 lebt sie als freischaffende Übersetzerin und Literaturkritikerin in Tiflis. Dem Werk Christine Lavants ist sie besonders verbunden und hat für die Herausgabe des Buches „Christine Lavant: Gedichte und Erzählungen“ (Verlag ‚Kaukasisches Haus‘ Tiflis 2001) 2002 den Förderpreis der Kunstsektion im BKA erhalten.

 

Vassil Guleuri

der aus Gori stammende Architekt und Schriftsteller hat gemeinsam mit Tamar Kotrikadze viele Gedichte Christine Lavants in Georgische übertragen.